Die Wirklichkeit einer gemeinsamen Welt
Wir mögen unterschiedlich leben oder lieben, sprechen oder essen, wir leben dennoch alle in derselben Welt. Diese Welt teilen wir mit Amöben, Orkas und Supernovae, sie beherbergt unsere Gefühle, Gedanken und Körperspuren. Die Welt ist weder ein Konstrukt noch ist sie inexistent. Sie ist aber ebenso wenig einfach da, für jeden erkennbar. Manchmal scheint es so, als lebte jeder ein seiner eignen, abgeschotteten Welt. Als könnte ich nie wissen, wie es in deiner Welt aussieht und du nicht, wie in meiner. Die Rede von „meiner Welt“ hat aber gewisse auffällige Tücken. Zum einen kann sie ganz metaphorisch verstanden werden. Genauso wie ich in meiner Wohnung, in meinem Körper, mit oder in meinen Besitztümern lebe, kann ich auch sagen, ich lebe nur in meinen Wahrnehmungen und Gedanken, in meinen Gefühlen und in meiner Welt der Tatsachen. Es ist richtig: ich kann zwar in deiner Wohnung leben, aber nicht in deinem Körper und ich kann die Welt auch nicht mit deinen Sinnen wahrnehmen oder mit deinen Gedanken denken. Folgt daraus aber, dass ich die Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken, die du hast, nicht haben kann? Offenbar liegt eine Doppeldeutigkeit im Gebrauch des Possessivpronomens, die mit der privilegierten Ich-Perspektive etwas zu tun hat, also mit der Idee der Privatheit von Gefühlen und Gedanken, allgemeiner mit Bewusstseinszuständen. Ich vergleiche folgende einfache Aussagen:
Das ist mein Koffer.
Das ist meine Frau.
Das ist mein Körper.
Das sind meine Gefühle und Gedanken.
Offenkundig bedeutet „mein“ jeweils etwas anderes: diesen bestimmten Koffer, von dem es viele Exemplare gibt, besitze ich, weil ich ihn gekauft habe (o.ä.); diese bestimmte Frau, die es nur einmal gibt, gehört zu mir (daraus leite ich vielleicht bestimmte Rechte ab, z.B. das Recht auf Vertrauen, Treue, Ehrlichkeit, Zugehörigkeit etc.), meinen Körper gibt es ebenfalls nur einmal, aber ich bin ihm auf andere Weise „verbunden“ als meiner Frau. Mein Körper ist einerseits ein öffentliches Phänomen, er existiert ja physisch und hat bestimmte materielle Eigenschaften, die ich meinem Ich nicht zuschreibe. Apropos „Ich“, hier tritt ein ähnliches Problem auch beim Ich auf, wenn ich sage: „Ich bestimme über mich.“, obwohl an dieser seltsamen Aussage doch auch deutlich gemacht werden kann, was es mit der Selbstbezüglichkeit auf sich hat. Sie setzt nämlich immer die Möglichkeit voraus, dass es anders sein kann: „Ich bestimme über dich!“ oder „Dein Körper gehört mir.“ oder „Ich sage dir, was du zu fühlen und zu denken hast.“ Das heißt, im Kern lassen sich diese merkwürdigen Äußerungen als Abwehr der Okkupation durch einen anderen, der mich nur als sein Eigentum (im Sinne des Koffers) betrachtet, verstehen. Und das ist natürlich interessant, wenn man bedenkt, dass Sklaverei bis ins 20. Jahrhundert und in einigen Formen auch heute noch existiert (Kinder- und Frauenhandel, Prostitution, Lohnsklaverei oder politische Geiselhaft von Bevölkerungen in autoritären Staaten). Mein Körper und meine Existenz hängen auf eine Weise zusammen, die es schwierig macht, mir ihn ohne mich und mir mich ohne ihn vorzustellen – was im Fall meines Koffers schon leichter ist. Zu sagen, ich bin mein Körper, hat freilich auch seine Tücken, denn ich kann das zumindest sprachlich nicht artikulieren. Sage ich statt „Ich schau mich im Spiegel an“ „Mein Körper schaut sich im Spiegel an.“ – wo steckt dann dies ominöse Ich? Sage ich „Mein Gehirn konstruiert sich ein neuronales Bild von seinem Körper“, dann stehe ich vor dem gleichen Problem. Die Rede von „meinem Körper“ Immerhin kann ich die Sprache, die du benutzt, um deine Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen auszudrücken, auch benutzen und ich kann sie auch verstehen, wenn du von deinen Gedanken etc. berichtest. Die Tatsache, dass jemand Gedanken etc. hat, heißt nicht, dass nur er sie hat. Nun beziehen sich deine Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen auf etwas, was du nicht hast, beispielsweise mein Buch oder mein Kind oder meinen Laptop. Wenn du durch die Stadt fährst, siehst du lauter Dinge, die du nicht hast. Du hast zwar nur deine Wahrnehmungen, aber das, was du wahrnimmst, gehört nicht nur zu deiner Welt, sondern auch zu meiner Welt. Also kannst du gar nicht nur in deiner Welt leben. Außer du interpretierst den Satz streng philosophisch, dann existieren ich und mein Buch auch nur in deiner Welt. Zu behaupten, dass für jeden nur das Wirklichkeit ist, was er selbst wahrnimmt, denkt etc., würde implizieren, dass beispielsweise mein Buch streng genommen dir gehört. Denn du hättest nicht die Möglichkeit, wenn deine Annahme zuträfe, meine Existenz und meine Besitztümer zu erkennen. Es ergibt sich ein weiteres Problem aus der Verallgemeinerung „Jeder“. Wenn „jeder“ in „seiner“ Welt lebt, dann können für keinen andere Welten existieren. Dann wäre auch das Possessivpronomen „mein“ überflüssig, denn „dein“ oder „unser“ gäbe es nicht. Der Satz wäre gar nicht formulierbar, wenn er wahr wäre, denn es würde nur meine Welt geben. Wenn ich aber andere Welten zugestehe, dann kann ich schon nicht mehr behaupten, dass jeder ganz streng genommen nur in seiner Welt lebt, denn dann würde ich ja meine Welt auf andere Welten hin öffnen. Auch das „Jeder“ schließt eine gemeinsame Welt ein, in der jeder für sich und für andere existiert. Sobald ich auch nur die Existenz eines Anderen anerkenne, lebe ich schon nicht mehr nur in meiner Welt. Die Sätze: „Jeder lebt (nur) in seiner eigenen Welt.“ Oder „Jeder hat (nur) seine Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle.“ sind also aus logischen Gründen unhaltbar, da sie keine Perspektive zulassen, von der aus über jeden geurteilt werden kann. Ließen sie nämlich eine solche universelle Perspektive zu, dann wären sie falsch, dann kann gar nicht jeder nur in seiner Welt leben, sondern eben – zumindest zum Teil – lebt jeder auch mit und in der Welt der anderen. Dies aber ist nur denkbar, weil alle in einer gemeinsamen Welt leben, in der sie sich auf die Erkenntnis dieser Welt einigen können, wenn sie es wollen und wenn sie die Befähigungen dazu haben. Die Tatsache, dass jeder nur seinen Körper, seine Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen hat, impliziert nicht, dass er nur in seinen Wahrnehmungen existiert, denn der Körper ist ebenso wie geistige Zustände und Eigenschaften zum Teil öffentlich für andere wahrnehmbar, erkennbar. Zugleich ist der Körper mit seinen Organen und Sinnesleistungen ein Teil der physischen Welt, die unabhängig von meinem Denken, Wahrnehmen etc. existiert. Anders verhält es sich auf dem ersten Blick mit dem Solipsismus, denn der Satz: „Ich lebe (nur) in meiner Welt.“ ist weder beweis- noch widerlegbar, da ja weder allgemeine Beweisverfahren noch andere Personen existieren bzw. erkennbar (und deren Existenzen folglich auch nicht behauptbar) sind. Fraglich ist zwar das „Ich“, da es in einer Reihe anderer Personalpronomen steht. Fraglich ist ferner die Existenz einer Sprache, die ja auch vollständig meine Sprache sein muss. Aber es ist denkbar, dass alles, was ich wahrnehme, fühle, denke, sage (und höre) nur meine Welt konstituiert. Diese Welt wäre aber keine Welt der Tatsachen, Eigenschaften und Gegenstände, da ich keine Möglichkeit hätte, sie mit Tatsachen einer Welt, die nicht die meinige ist, zu vergleichen. In dieser meiner Welt wären Tatsachen und Fiktionen, wahr und falsch gleichbedeutend und damit gleichgültig. Es gäbe für mich keine Außenwelt, da Innen und Außen identisch wären, es gäbe auch keine materiellen Gegenstände im Unterschied zu geistigen Phänomenen, es gäbe kein Fremdpsychisches und kein Eigenpsychisches, ich hätte auch keine Möglichkeit, festzustellen, dass ich nur in meiner Welt lebe. Ich hätte kein Bewusstsein und auch nicht die Chance dazu, meine Welt als meine Welt zu erkennen, da ich weder von einer objektiven Welt noch von der binären Korrespondenztheorie der Wahrheit noch von anderen Personen mit einer eigenen Denk-, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit etwas wüsste. Kurz, der Satz „Ich lebe in meiner Welt“ ist selbstwidersprüchlich: Wäre er wahr, könnte ich ihn nicht einmal denken. Wo diese Behauptung dennoch aufgestellt wird, kann sie ganz unterschiedliche Funktionen haben. Zum einen ist sie eine Schutzbehauptung, die das Ich zum Selbstschutz gegen zu großen Rechtfertigungsdruck machen kann. Zum anderen leben tatsächlich viele Menschen mit einer Selbstimmunisierungsstrategie, die sie vom Realitätsprinzip entlastet. Die Tatsache, dass in der Tat viele Menschen in ihrer Welt leben und jeden Kontakt mit einer kritischen, unangenehmen „Außenwelt“ meiden, die ihrer Welt- und Selbstkonzepte falsifizieren könnte, bestätigt aber gerade die Falschheit des Satzes. Denn je mehr ein Mensch sich in seiner Welt isoliert, desto größer wird die Welt, die er dabei ausschließt und ihm Widerstand entgegensetzt. In Bezug auf ideologisch oder religiös eingeschworene Kollektive lautet der Satz denn auch „Wir leben in der wahren Wirklichkeit – ihr dagegen lebt in der falschen!“ und ist sehr problematisch. Tatsächlich bedeutet eine solche Einstellung im Allgemeinen nichts Gutes, da sie gewöhnlich mit gewaltsamen Interpretationen der dann zur puren „Außenwelt“ oder feindlichen gewordenen gemeinsamen Welt werden kann und auch nach innen so wirken muss, um die Gemeinschaft auf ein Selbst- und Weltkonzept einzuschwören.